Arbeit & Beruf Transformation

Einigkeit muss nicht sein in einer Demokratie, aber Zuhören ist Pflicht. Das Erwerbslosenparlament tagte in M-V.

Die Vizepräsidentin des Landtages, Frau Dr. Mignon Schwenke (DIE LINKE), eröffnete das Parlament mit einem Grußwort - auch für die Landtagspräsidentin, die ihre Schirmherrschaft wegen einer Erkrankung leider nicht ausüben konnte.

In einem ersten Redebeitrag brachte René Last (Stralsund), der nach berufsbedingten Erkrankungen seit Jahren im Hartz-IV-Bezug lebt, die Ergebnisse der Workshops zur Vorbereitung des ELP auf den Punkt: „NIEMAND, wirklich NIEMAND hatte vor, Hartz-IV zu werden!“ 

Herr Harry Glawe (Minister für Wirtschaft, Arbeit und Gesundheit, CDU), dankte in seinem Grußwort dem ELP für seine Arbeit und stellte fest: "Sie haben in den letzten Jahren tatsächlich dafür gesorgt, dass die Situation in der Politik besser bekannt wurde!“ Als Wirtschaftsminister ist Herr Glawe erst seit zwei Jahren für die Arbeitsmarktpolitik zuständig und hat in dieser Zeit einiges auf den Weg gebracht, so z.B. das Programm „Bürgerarbeit. An diesem gebe es zwar auch Kritik, räumte der Minister ein, aber es sei erst mal ein guter Anfang. Die Regierung sei weiterhin daran interessiert, arbeitslose Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen – und wenn dies nicht möglich sei, dann auf andere Weise eine soziale Teilhabe zu ermöglichen.

Der Passiv-Aktiv-Transfer (PAT) wäre eine Option, soziale Teilhabe durch die Förderung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung finanziell zu ermöglichen – wenn er denn endlich umgesetzt würde. Dies erläuterte Herr Klaus Kittler (Diakonisches Werk Württemberg) in seinem bemerkenswerten Vortrag. Der PAT ist ein Verfahren, bei dem die ohnehin von Kommunen und Bund gezahlten Beiträge zur Sicherung des Lebensunterhalts aufgestockt und zur Finanzierung sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze verwendet werden. Das klingt einfach, ist aber wegen der verschiedenen Kostenträger und Rechtskreise überaus kompliziert. Herr Kittler zeigte, wie die Idee ab 2003 in der Diakonie entwickelt, geprüft, durchgerechnet und mit der Kampagne „Pro Arbeit“ in die Öffentlichkeit getragen wurde. 2012 legten dann Grüne und SPD Gesetzentwürfe zur öffentlich geförderten Beschäftigung und zum PAT vor. Zur Bundestagswahl 2013 stimmte auch die FDP dem Konzept zu, DIE LINKEN waren ohnehin dafür und auch viele Abgeordnete der CDU. Aber: „Nach der Bundestagswahl 2013 tut sich nix!“ Angeblich scheiterte die Einführung am persönlichen Widerstand und Veto des Bundesfinanzministers. Nach der Bundestagswahl 2017 steht der PAT dann plötzlich im Koalitionsvertrag: „Wir ermöglichen außerdem den Passiv-Aktiv-Transfer in den Ländern.“ – Ein Selbstläufer wird der PAT dennoch nicht werden, vor uns liegen „die Mühen der Ebene“, so Herr Kittler. Wichtig ist, dass mit dem PAT ein Umdenken und Paradigmenwechsel verbunden ist: Öffentliche Mittel dürfen nicht länger in ein bürokratisch aufwändiges System von Kontrolle und Sanktion fließen. Sie sollen Arbeit und soziale Teilhabe fördern, nicht soziale Isolierung und Stigmatisierung.

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Rege Diskussion zwischen dem Teilnehmenden am ELP. (Foto: Jürgen Kehnscherper, KDA)

Erstmals saß mit Frau Sandra Rieck, eine direkt Betroffene, im Podium zusammen mit dem Wirtschaftsminister und Vertreter*innen der Landtagsfraktionen Herr Jochen Schulte (SPD), Frau Maika Friemann-Jennert (CDU) und Herr Henning Förster (DIE LINKE), sowie Frau Birgit Czarschka (SPD), Bürgermeisterin.
Wie es nicht anders zu erwarten war, fielen die Antworten auf die Frage vom Moderator Herr Bernd Kalauch (NDR), ob Hartz-IV mit seinen Sanktionen noch zeitgemäß sei?, sehr unterschiedlich aus. Hier wird weiter zu streiten sein. Herr Henning Förster plädierte dafür, „nicht zu hoffen, das irgendwann vielleicht mal was Besseres aus Berlin kommt“, sondern sofort realistische kleine Schritte zu tun, die im Rahmen von Landespolitik jetzt schon möglich seien: Beispielsweise die Einrichtung unabhängiger Schiedsstellen, Ombudsmänner und -frauen für die Jobcenter. Minister Glawe sicherte zu, dass er das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit auch in die Bundesebene einbringen wird und griff damit eine wichtige Forderung des Erwerbslosenparlaments auf.

Bewegung kommt auf, als zwei Frauen zu reden beginnen. Sie sprechen nicht für sich selber. Sie haben gelernt, ihre Wünsche zurückzunehmen. Warum aber wird dies auch ihren Kindern zugemutet?! - Wer von uns ahnt auch nur, wie schwer es Kinder aus „Bedarfsgemeinschaften“ haben, sich z.B. ihre Berufswünsche zu erfüllen? Dass sie von vorneherein auf ganz bestimmte Berufe gelenkt werden? Dass Nachhilfe nur bezahlt wird, wenn ein „ungenügend“ droht? Dass es im System nicht vorgesehen ist, dass das Kind einer „Leistungsempfängerin“ begabt genug sein könnte, zu studieren und sich in einem Fach auf ein „sehr gut“ verbessern möchte?

Minister Glawe widersprach sehr entschieden: Jeder junge Mensch, der entsprechende Voraussetzungen hat, kann bei uns studieren und bekommt auch BAFÖG. Im Prinzip trifft das zu. Aber die Praxis und das Leben von Kindern aus Familien im Hartz-IV-Bezug sind offensichtlich weitaus komplizierter und diskriminierender als die Theorie.

Ich hätte dazu gerne was gesagt“, sagt später die Tochter einer Betroffenen, „aber ich habe mich nicht getraut, ich bin ja noch Schülerin.“ Schade! Hoffentlich dann im nächsten Jahr. –
Oder besser: Die Kinder sollen ihr eigenes Parlament einberufen. Ein Kinder- und Schüler*innen-Parlament für die 34.700 Kinder in M-V, die den Reglementierungen und Stigmatisierungen der „Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (!) unterworfen sind.
Chancengleichheit ist keine Kür, sondern Pflicht in unserem Staat. Die enorme und wachsende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in unserem Land wird ganz wesentlich durch die Behauptung legitimiert, dass es eine Chancengleichheit gebe und prinzipiell jeder und jedem der Weg „nach oben“ offen stehe. Wenn diese Chancengleichheit für einen erheblichen Teil der jetzt heranwachsenden Generation nur Makulatur sein sollte, dann wäre das ein sehr ernstes Problem.

In ihrem Schusswort zum 21. Erwerbslosenparlament forderte Frau Sandra Rieck die Teilnehmenden auf: „Wir müssen weitermachen, uns zur Wehr setzen, dass aus dem „Man müsste mal“ der Politiker ein „Wir machen das jetzt“ wird.“